Jahresbericht Sozialkunde 2018/2019

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„Sozialkunde braucht kein Mensch“

Diese weitverbreitete Einschätzung junger Berufsschüler hält einer näheren Betrachtung in der Regel nicht stand. Erst recht nicht, wenn man den Arbeits- und Lebensalltag Erwerbstätiger in Deutschland betrachtet.

Das deutsche Grundgesetz ist dabei die „sozialkundliche“ Grundordnung des Zusammenlebens in Deutschland und umso bedeutsamer, als in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft wie der deutschen, immer weniger Menschen kulturelle Wurzeln und Traditionen teilen.

Dass das, in diesem Jahr den 70. Geburtstag feiernde, deutsche Grundgesetz lebt, und immer wieder die aktuelle gesellschaftliche bzw. schulische Diskussion belebt, lässt sich an einigen Beispielen aus dem politischen Geschehen dieses Schuljahres belegen:

 

Grundgesetz Artikel 3 Absatz 3: „Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“

Die Kündigung eines Chefarztes durch ein katholisches Krankenhaus wegen seiner Scheidung und Wiederheirat ist unwirksam. Der katholische Arzt sei gegenüber seinen nichtkatholischen Kollegen unzulässig benachteiligt worden, so entschied das Bundesarbeitsgericht im Februar 2019 in Erfurt. Homosexuell, geschieden, nicht getauft – es gibt vieles, was der Kirche als Arbeitgeber nicht passt. Seit diesem Jahr muss auch sie sich auch an geltendes Arbeitsrecht halten.

Künftig werden also die vom Grundgesetz garantierten Rechte für Homosexuelle, Frauen, Unverheiratete und Geschiedene auch für Angestellte in kirchlichen Schulen, Krankenhäusern und Diakonien gelten „… und das ist gut so“.

Grundgesetz Artikel 15 : „Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.“

Dieser Artikel beschreibt die Möglichkeit Grund und Boden in Gemeineigentum zu überführen. Eine Möglichkeit, die bisher kaum zur Anwendung kam, eher der sozialistischen DDR zugeordnet wurde, und doch – einmal aktiviert – eine große Sprengkraft entfaltet. In der momentanen gesellschaftlichen Diskussion ist die Enteignung von großen Wohnungskonzernen angesichts der Tatsache, dass sich immer weniger Menschen die steigenden Mieten in Großstädten leisten können.

Grundgesetz Art 140 in Verbindung mit Art.138 Weimarer Reichsverfassung von 1919:

„Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.“

Diese jährlichen Staatsleistungen des deutschen Steuerzahlers an die Kirchen, im Jahr 2018 ca. 540 Millionen EUR, die nichts mit der Kirchensteuer zu tun haben, hätten eigentlich schon seit 100 Jahren abgeschafft werden sollen, so forderte es die Weimarer Verfassung und anschließend das Grundgesetz. Die Zahlungen überweist der deutsche Staat der evangelischen und katholischen Kirche aus Steuermitteln, als Ausgleich für Enteignungen des kirchlichen Besitzes nach dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803. Dass Ansprüche bestehen, ist wenig umstritten. Was aber Kritik erregt, ist die Tatsache, dass die verfassungsgemäßen Staatsleistungen seit 100 Jahren nicht abgelöst wurden, obwohl das Grundgesetz seit 1949 den klaren Auftrag dazu erteilt.

Gleichzeitig wird im gesellschaftlichen Diskurs zunehmend eine deutlichere Trennung von Staat und Kirche gefordert. So kommen sogar aus der Kirche selbst Vorschläge, die Kirchensteuer durch Alternativen zum derzeitigen Kirchensteuermodell zu ersetzen. Damit hat sich der Eichstätter Bischof Gregor Maria Hanke zu Wort gemeldet, der, verursacht durch den Finanzskandal in seiner Diözese mit einem Verlust von 47 Millionen EUR, einen massiven Vertrauensverlust in das Finanzgebaren der Kirche sieht.

Diese gesellschaftliche Aktualität von sozialkundlichen Inhalten spiegelt sich am beruflichen Schulzentrum Neumarkt in sozialkundlichen Projekten wieder, die den Schülern den Zugang zu politischen Inhalten erleichtern und die Wichtigkeit des Fachs Sozialkunde für das eigene Leben verdeutlichen sollten.

Eröffnet wurde das Jahr mit der „virtuellen“ Teilnahme an der Landtagswahl im Herbst 2018. Hier beteiligten wir uns an dem Projekt U18. Ziel dieses Projekts war es, die zukünftigen Erstwähler, also Minderjährige, daher der Name U18, auf echte Wahlen vorzubereiten, damit sie den eigenen politischen Willen formulieren und in eine konkrete Wahlentscheidung umsetzen können.

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Wie stellt man eigentlich die Stromversorgung eines ganzen Dorfes sicher? Und wie schafft man es gleichzeitig den CO2-Ausstoß zu senken, den Flächenverbrauch zu vermindern und die Nahrungsmittelproduktion im Auge zu behalten? Und wie kann man dabei die unterschiedlichen Interessen in der Gesellschaft unter einen Hut bringen? Antworten auf diese Fragen konnten Schüler der Berufsschule in der Woche vom 12. bis zum 16. November durch das innovative Projekt „Energiespardorf Bayern“ des BUND Naturschutz finden. 

Das „Energiespardorf Bayern“ ist ein interaktives Modell einer durchschnittlichen bayerischen Gemeinde mit Wohnhäusern, Kleingewerbe und Landwirtschaft. Ebenso durchschnittlich ist der Energieverbrauch dieser Gemeinde. Bei dem Workshop mit dem Energiespardorf ging es nicht alleine um Energieaspekte, sondern auch um die Auswirkungen von Energienutzung auf Umwelt, Klima und Landschaftsbild.

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Am 18. Februar kam die DGB Jugend auf ihrer bayernweiten Berufsschultour zu uns an die Berufsschule. Dabei wurde die Möglichkeit genutzt, dass Vertreter der Gewerkschaft in Unterrichtsstunden kamen und zu gewerkschaftlichen Themengebieten (Arbeits- und tarifrechtliche Fragen, Gegenwart und Zukunft der Gewerkschaften ...) referierten.

Auf Einladung des Fachbereichs Sozialkunde besuchte uns am 25. Februar Herr Landrat a. D. Hans Schuierer und sein damaliger Mitstreiter gegen der Bau der atomaren Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf, Herr Wolfgang Nowak. (siehe Extrabericht) Begleitet wurden die beiden Herren von Frau Gertrud Heßlinger (zweite Bürgermeisterin der Stadt Neumarkt und damalige Aktivistin) und Herrn Johannes Wein aus Parsberg, der als Polizist die Aufgabe hatte, das Baugelände zu schützen.

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Vor mehreren Klassen aus verschiedenen Fachbereichen der Berufsschule Neumarkt wurden die Geschehnisse bei den Auseinandersetzungen um den Bau der WAA in den 1980er Jahren beleuchtet.

Am 27. Februar kam Herr Peter Bauch, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag, im Auftrag der Hanns-Seidel-Stiftung zu zwei Vorträgen in das Berufliche Schulzentrum Neumarkt. 

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Er referierte zu dem Thema „DER BREXIT – QUO VADIS EUROPA“ vor insgesamt 150 Schülern. Zusammenfassend stellte er am Ende seines Vortrages fest, dass der Brexit letztlich der Wunsch nach Kontrolle sei - "... we want to have back control ..." - und damit der Schritt ist heraus aus Europa, hin zur Renationalisierung, eine bedenkliche Entwicklung, die sich auch in anderen Teilen Europas zeige.

Im März 2019 fand ein zweiwöchiges Projekt gegen Rassismus statt, das zu einem großen Teil von der Kollegin Dinauer organisiert und durchgeführt wurde (siehe Extrabericht). Dafür recht herzlichen Dank! Auch unseren Sponsoren herzlichen Dank für die Finanzierung dieses Projekts. So wurden wir auch unter anderem von der Bürgerstiftung Neumarkt unterstützt

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Die Vielfalt der Biographien und die Pluralisierung der Lebenswelten der Schüler ermöglicht es zu einem konstruktiven Umgang mit gesellschaftlichen Unterschieden in so einem Projekt anzuregen. Zugleich eigneten sich die alltäglichen Fragen und Konflikte, die sich in einer pluralistischen Schule zwangsläufig ergeben, für eine lebensweltnahe Gestaltung des projektbezogenen Unterrichts. In der Auseinandersetzung mit gesellschaftlicher Diversität sollten die Handlungs- und Urteilskompetenzen von Jugendlichen durch dieses Projekt gefördert werden.

Ein weiterer Aspekt des diesjährigen „Sozialkundejahrs“ waren die Europawahlen im Mai 2019. Wir beteiligten uns an dem Projekt Juniorwahl EUROPA 2109, das es sich zum Ziel gesetzt hatte, politische Bildung an weiterführenden Schulen und das Erlernen von Demokratie zu ermöglichen.

Die Juniorwahl ist in ein Konzept, das auf zwei Säulen basiert: Die erste Säule umfasst die intensive unterrichtliche Vorbereitung der Wahl, die die Lehrkräfte selbst in ihren Klassen durchführen. Die zweite Säule und Höhepunkt des Projektes stellt die dann möglichst realistisch simulierte Europawahl dar.

In der Aula unserer Schule wurde für 4 Wochen die Ausstellung „TODESOPFER RECHTER GEWALT SEIT 1990 gezeigt. Die Ausstellung basiert auf öffentlich zugänglichen Informationen, vor allem auf Zeitungsartikeln. Sie dokumentiert das Bild, das sich die Gesellschaft von den Opfern rechter Gewalt gemacht hat: Manche Fälle führten zu öffentlicher Empörung oder waren Anlässe politischer Kontroversen; von vielen der Toten jedoch wurde nie ein Foto veröffentlicht, von manchen noch nicht einmal ihre Namen.

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Die Ausstellung erinnert an diese 183 Menschen und thematisiert zugleich die anhaltende Verdrängung rechter Gewalt.

Leider fanden in diesem und im letzten Schuljahr keine Fahrten nach Berlin oder zu Gedenkstätten statt, was sicher auch seine Ursache in schulinternen Erfassungsmodi ausfallenden Unterrichts hat. Dies bedauere ich umso mehr, als diese Fahrten sowohl politisch als auch pädagogisch von überragendem Wert waren und sind.

Der Sozialphilosoph Oskar Negt hat den pädagogischen Anspruch an Schulen in einem Interview mit der Hannoverschen Allgemeinen so formuliert: „Die Erfüllung von Bildungsnormen darf nicht das oberste Ziel der Schule sein, das Produzieren von Fachkräften nicht der alleinige Zweck. Wir brauchen junge Menschen, die nicht nur brav in der Spur laufen, sondern eigenständig denken und wieder zu träumen wagen.“

Einen kleinen Beitrag dazu versuchten die Sozialkundelehrer in diesem Jahr beizusteuern, dafür recht herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen des Fachbereichs.

Bedanken möchte ich mich auch bei der Religionsabteilung, den Schülern der Religions- und Ethikklassen und den Organisatorinnen des Weihnachtsbasars für ihr „soziales Engagement“ und für die großzügige finanzielle Unterstützung des einzigen bayerischen Kinderhospizes in Bad Grönenbach/Allgäu.

Einen ganz besonders wichtigen Beitrag leisteten in diesem Jahr wieder die Organisatoren der „Interkulturellen Woche“, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, Schüler aus „Flüchtlingsklassen“ mit Schülern aus „Nichtflüchtlingsklassen“ in Kontakt zu bringen um damit gegenseitige Vorurteile abzubauen. Vielen Dank!

Thomas Trappe, Sozialkundefachbetreuer

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